Dehnen fühlt sich gut an. Manchmal kann es sogar geradezu unwiderstehlich sein. Stell dir vor, du bist gerade von einem langen, erholsamen Schlaf aufgewacht – was möchtest du als Erstes tun?
Wenn es dir wie den meisten Menschen geht, ist die Antwort klar: sich schön strecken! Aber warum verspüren wir diesen Drang, und was genau passiert, wenn man sich dehnt?
Und noch wichtiger: Wie wirkt sich das Dehnen auf unsere Flexibilität, Mobilität und Gesamtleistung aus? Lass uns etwas genauer darauf eingehen, was es mit dem Dehnen auf sich hat – und was es für unser tägliches Leben und unsere Fitness bedeutet.
Warum dehnen wir uns?
Das Verlangen danach, sich zu strecken, ist tief in unserer Physiologie verwurzelt – eine Reaktion auf verschiedene Reize. Ob nach langem Sitzen, bei Müdigkeit oder bei akuten Muskelverspannungen – Dehnen hilft, Beschwerden zu lindern und den Körper wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Ganz gleich, ob du stundenlang am Schreibtisch sitzt oder eine lange Fahrt hinter dir hast: längere Phasen der Inaktivität können aufgrund der verringerten Durchblutung und Sauerstoffversorgung zu Steifheit und Verspannungen in den Muskeln führen.
Dehnen regt die Durchblutung der Muskeln an und versorgt sie mit Sauerstoff und wichtigen Nährstoffen, während gleichzeitig Stoffwechselabfallprodukte abtransportiert werden. Dadurch werden etwaige Steifheit und Verspannungen gelindert. Es löst außerdem die Freisetzung von Endorphinen aus, den körpereigenen und schmerzlindernden Substanzen, die für die Förderung von Entspannung und die Senkung des Stresspegels verantwortlich sind.
Was passiert beim Dehnen?
Dehnen löst physiologische Reaktionen im Körper aus, die sich in vielerlei Hinsicht positiv auf die Muskelfunktion und das allgemeine Wohlbefinden auswirken. Bei der Dehnung durchlaufen die Muskelfasern Phasen der Dehnung und Entspannung - dadurch wird ein größerer Bewegungsspielraum ermöglicht.
Beim Dehnen werden die Muskeln durch Krafteinwirkung gestreckt, wodurch sich die einzelnen Muskelfasern verlängern und neu ausrichten. Bindegewebe, das die Muskeln umgibt, wie Sehnen und Faszien, werden beim Dehnen geschmeidiger, was die Flexibilität und Mobilität verbessert.
Wenn sich die Muskeln dehnen und entspannen, stimulieren sie auch die Propriozeptoren. Propriozeptoren sind Sinnesrezeptoren, die dem Gehirn Rückmeldung über die Position und Bewegung des Körpers geben. Diese verbesserte Propriozeption steigert die Körperwahrnehmung und -koordination, was zu besseren Bewegungsmustern und einer besseren motorischen Kontrolle führt.
Flexibilität vs. Mobilität
Auch wenn sie ähnlich erscheinen mögen, ist es wichtig, zwischen Flexibilität und Mobilität zu unterscheiden: Sie stellen unterschiedliche Aspekte der körperlichen Funktion dar.
Flexibilität ist die Fähigkeit eines Muskels oder einer Muskelgruppe, sich ohne Kraftaufwand zu verlängern. Dabei geht es vor allem um die Elastizität der Muskeln und des dazugehörigen Bindegewebes.
Mobilität hingegen bezieht sich auf die aktive Fähigkeit des Gelenks, sich in vollem Umfang zu bewegen, was sowohl Flexibilität als auch motorische Kontrolle beinhaltet.
Während die Flexibilität in erster Linie die passiven Eigenschaften der Muskeln und des Bindegewebes umfasst, beinhaltet die Mobilität dynamische Bewegungsmuster und die Koordination der Muskeln, die ein Gelenk umgeben.
Wichtig hierbei: Es geht nicht um „entweder, oder” – die Verbesserung gleichermaßen führt zu einer besseren Leistung.
Die Bedeutung von Flexibilität und Mobilität für die Leistung
Wer Sport treibt, ist auf Flexibilität und Mobilität angewiesen. Nur so kann eine korrekte Körperausrichtung erreicht, komplexe Bewegungen präzise ausgeführt und sich zwischen den Trainingseinheiten effektiv erholt werden. Dieses dynamische Duo hilft außerdem dabei, die Bewegungseffizienz zu verbessern, Verletzungen vorzubeugen und die Gesamtleistung zu steigern.
Und falls dich all diese Vorteile noch nicht überzeugt haben: Flexibilität und Mobilität tragen auch zu einer besseren Körperhaltung, Gelenkgesundheit und insgesamt zu funktionellen Bewegungsmustern bei – das verbessert die Lebensqualität und verringert das Risiko von Verletzungen des Bewegungsapparats.1
Die Verbesserung von Flexibilität und Mobilität ist eine einfache, aber wirksame Methode, um unsere Bewegungen zu verbessern und Höchstleistungen zu erbringen.
Verschiedene Arten des Dehnens
Nachdem wir nun alle Vorteile des Dehnens aufgezählt haben, wollen wir einige der gängigsten Arten des Dehnens betrachten.
Statisches Dehnen
Halten einer Dehnposition über einen längeren Zeitraum ohne Bewegung (normalerweise 15–60 Sekunden).
- Vorteile: Erhöht die Muskellänge und -flexibilität und fördert die Entspannung.
- Nachteile: Kann die Muskelkraft und Leistung vorübergehend verringern, wenn es vor intensiver körperlicher Aktivität egenommen wird.
- Beispiel: Versuche auf dem Boden sitzend deine Zehen zu berühren. Halte die Position für 30 Sekunden ohne dich zu bewegen.
Dynamisches Stretching
Der Körper wird durch eine Reihe von kontrollierten, rhythmischen Bewegungen geführt, die eine Aktivität imitieren.2
- Vorteile: Verbessert die Gelenkbeweglichkeit, erhöht die Muskelaktivierung und -koordination und bereitet den Körper auf dynamische Bewegungen vor.
- Nachteile: Weniger effektiv für die Zunahme der Muskellänge im Vergleich zum statischen Dehnen.
- Beispiel: Schwinge ein Bein in einer kontrollierten Bewegung vor und zurück, während du den Bewegungsumfang allmählich vergrößerst, um deine Hüftbeuger und Kniesehnen aufzuwärmen.
Passives Dehnen
Anwendung von äußerer Kraft (Schwerkraft, eine andere Person oder ein Gerät) zur Dehnung des Muskels ohne aktiven Muskeleinsatz.
- Vorteile: Ermöglicht tiefere Dehnungen und fördert die Entspannung.
- Nachteile: Gefahr der Überdehnung oder zu starker Abhängigkeit von externer Hilfe.
- Beispiel: Lege dich auf den Rücken und lege ein Widerstandsband um einen Fuß. Halte das Bein gerade und ziehe es sanft zur Brust, so dass die Schwerkraft die Dehnung unterstützt.
Aktives Dehnen
Kontraktion des Gegenmuskels (Antagonisten) während der Dehnung des Muskels.
- Vorteile: Erhöht den aktiven Bewegungsumfang und verbessert die Muskelaktivierung und -kontrolle.
- Nachteile: Erfordert mehr Kraft und Koordination und kann für Anfänger eine Herausforderung sein.
- Beispiel: Liege mit ausgestreckten Beinen auf dem Rücken Hebe mit den Händen ein gestrecktes Bein in Richtung Decke, während du mit den Quads aktiv gegen die Hände drückst und die Kniesehne dehnst.
PNF (Proprioceptive Neuromuscular Facilitation zu deutsch: propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation)
Wechsel zwischen Kontraktion und Entspannung des Zielmuskels, um die Beweglichkeit zu verbessern.
- Vorteile: Erhöht die Flexibilität und verbessert die neuromuskuläre Kontrolle und Koordination.
- Nachteile: Erfordert eine weitere Person oder eine spezielle Ausbildung für die richtige Ausführung.
- Beispiel: Lege dich auf den Rücken, hebe ein Bein und drücke einige Sekunden lang aktiv gegen den Widerstand einer anderen Person. Entspanne dich ein paar Sekunden und nimm die Position wieder ein, indem du dein Bein sanft weiter in die Dehnung drückst.
Das Wissen in die Praxis umsetzen
Verbesserung der Flexibilität
Möchtest du beweglicher werden? Versuche, eine Mischung aus statischem, dynamischem und PNF-Dehnen in deine Routine einzubauen.
Konzentriere dich auf die wichtigsten Muskelgruppen und führe die Dehnungen regelmäßig durch, idealerweise nach dem Aufwärmen oder einer körperlichen Aktivität, wenn die Muskeln lockerer sind. Steigere nach und nach die Intensität und Dauer der Dehnungen, um Überdehnung und Verletzungen zu vermeiden.
Foam Rolling vor dem Dehnen
Foam rolling, oder Tiefengewebsmassage, kann vor dem Dehnen von Vorteil sein, um Muskelverspannungen zu lösen und die Gewebequalität zu verbessern.
Das Rollen über verspannte oder eingeschränkte Körperbereiche hilft, die Muskeln auf die Dehnung vorzubereiten, indem es die Muskelsteifheit reduziert und die Durchblutung fördert. Außerdem bietet es zusätzliche Entspannung, von dem wir alle profitieren können.
Kann Dehnen die Beweglichkeit verbessern?
Dehnen spielt eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung der Beweglichkeit der Gelenke. Es erhöht die Muskellänge und die neuromuskuläre Kontrolle.
Die Kombination dynamischer und aktiver Dehntechniken, die funktionelle Bewegungen nachahmen, kann die Beweglichkeit der Gelenke und die Bewegungseffizienz erheblich verbessern. Dies führt zu einer besseren sportlichen Leistung und einem geringeren Verletzungsrisiko.
3 Mythen über das Dehnen (und eine Wahrheit)
Zum Abschluss unserer Reise in die Welt des Dehnens wollen wir noch ein paar weit verbreitete Mythen entlarven – und dann bist du wirklich bereit, loszulegen.
Mythos: Dehnen vor dem Sport beugt Verletzungen vor.
Realität: Dehnen kann zwar die Beweglichkeit verbessern und den Körper auf körperliche Aktivität vorbereiten, ist aber nach einem richtigen Aufwärmen effektiver. Dynamische Bewegungen und Muskelaktivierungsübungen eignen sich besser zur Verletzungsvorbeugung vor dem Sport.3
Mythos: Dehnen ist nur effektiv, wenn es wehtut.
Realität: In diesem Fall ist Schmerz nicht gleich Gewinn – die Dehnung sollte in einem angenehmen Bewegungsbereich erfolgen. Wenn du während des Dehnens Schmerzen verspürst, könnte dies auf eine Überdehnung oder ein zugrunde liegendes Problem hinweisen. Um Verletzungen zu vermeiden, solltest du alles vermeiden, was Schmerzen verursacht.
Mythos: Dehnen hilft, Muskelkater zu lindern.
Realität: Auch wenn dies kein Mythos per se ist: vor dem Dehnen solltest du dich immer aufwärmen. Es muss nicht kompliziert sein: ein paar Hampelmänner oder andere einfache Übungen, die den Kreislauf in Schwung bringen, reichen aus. Vermeide es, dich zu dehnen, wenn deine Muskeln angespannt und kalt sind, denn das kann mehr schaden als nutzen.
Die Wahrheit: Beständigkeit ist der Schlüssel zur Verbesserung der Beweglichkeit.
Regelmäßiges Dehnen, täglich oder zumindest mehrmals pro Woche, ist für das Erreichen und Beibehalten von Beweglichkeit unerlässlich. Konsequentes Üben hilft, Muskelverspannungen vorzubeugen und einen optimalen Bewegungsumfang aufrechtzuerhalten.4
Noch mal in Kürze
Wenn du die Wissenschaft hinter dem Dehnen verstehst, zwischen Flexibilität und Mobilität unterscheidest und verschiedene Dehnungstechniken in deine Routine einbaust, kannst du das volle Potenzial deines Körpers freisetzen.
Die Vorteile gehen über die Verbesserung der sportlichen Leistung hinaus – was ohnehin ein großer Gewinn ist, wenn du gewisse Fitnessziele verfolgst. Regelmäßiges Dehnen fördert auch die allgemeine Gesundheit und das Wohlbefinden, was das eigentliche Motiv hinter unserer Fitness ist.
Wenn du also das nächste Mal den Drang verspürst, dich zu strecken, solltest du ihm nachgeben. Es ist die Art und Weise, wie dein Körper dir mitteilt, dass er bereit ist, sich zu bewegen, Leistung zu erbringen und zu gedeihen.
Sources
[1] Shrier, I. (2004). Does stretching improve performance? A systematic and critical review of the literature. Clinical Journal of Sport Medicine, 14(5), 267–273. [doi:10.1097/00042752-200409000-00004]
[2] Behm, D. G., & Chaouachi, A. (2011). A review of the acute effects of static and dynamic stretching on performance. European Journal of Applied Physiology, 111(11), 2633–2651. [doi:10.1007/s00421-011-1879-2]
[3] Herbert, R. D., & Gabriel, M. (2002). Effects of stretching before and after exercising on muscle soreness and risk of injury: systematic review. BMJ (Clinical research ed.), 325(7362), 468. [doi:10.1136/bmj.325.7362.468]
[4] Knudson, D. (2008). Fundamentals of biomechanics. Springer Science & Business Media.